Von der Knochenarbeit

Vom Entstehen prähistorischer Klänge

4. März 2024

Lesezeit: 5 Minute(n)

Seit vielen Jahren stelle ich aus wissenschaftlichem Interesse Blasinstrumente aus Knochen her. Besonders spannend und erkenntnisreich ist für mich dabei der Versuch, archäologische Funde aus der Altsteinzeit nachzubauen. Ein Gedanke lässt mich beim langwierigen Bearbeiten des harten Materials nicht mehr los: War denn das Leben in Europas karger Mammutsteppe während der letzten Eiszeiten wirklich so hart und entbehrungsreich? Mussten die Menschen unentwegt mit mühsamer Jagd- und Sammeltätigkeit von früh bis spät ihre Existenz sichern? Wissenschaftliche Untersuchungen und Überlegungen, Vergleiche mit rezenten Naturvölkern und auch meine Rekonstruktionstätigkeit führen zu einem völlig anderen Bild: Zwei bis vier Stunden pro Tag reichten zur Existenzsicherung. Die restliche Zeit des Tages wurde mit Spiel, Körperpflege, sozialem Austausch und sehr viel Nichtstun verbracht. Und das Alles – sofern man nicht selbst Opfer von Beutegreifern wurde – bei bester Gesundheit bis ins hohe Alter! Anhäufung von materiellem Besitz spielte bei nomadischer Lebensweise keine Rolle. Der größte Besitz war Zeit!
Text und Fotos: Albin Paulus

Jahrtausende alte Originalinstrumente

Holer Fels Original

Foto: Jensen - Uni Tübingen

Geissenklösterle Elfenbeinflöte

Foto: Urgeschichtliches Museum Blaubeuren

Grubgraben

Foto: Wolfgang Sauber

Die Kunst als Teil der Existenz

Doch was hat nun Knochenflötenbau mit Müßiggang zu tun? Der englische Dichter John Keats schrieb treffend »O köstliches emsiges Nichtstun«! Nur ausreichende Muße führt zu Kreativität, und es ist offenbar dem Menschen wichtig Kunst zu schaffen. Sie ist Teil der menschlichen Existenz!

Aus heutiger Sicht mag das Bauen von Knochenflöten skurril, als nicht besonders tierlieb oder gar ekelhaft anmuten. Die Menschen der Altsteinzeit empfanden sicher anders. In Jagd- und Sammelkulturen sieht sich der Mensch nur als kleines Glied der Schöpfung, als winziger Teil der Welt, die ihn umgibt.

So, als wüssten diese Menschen Bescheid um die komplexen Zusammenhänge des Ökosystems, des Zusammenwirkens von Wetter, Landschaft, Tieren, Pflanzen, Pilzen und sämtlichen Mikroorganismen: Alles hat für sie eine Seele und ist belebt (Animismus). Jedes Handeln ist folglich ein Eingriff in die eigene Existenz. Nichts von einem erlegten Tier wurde verschwendet oder achtlos liegengelassen, so auch die wertvollen Knochen. Vielleicht hatte das Spiel von Knochenflöten neben dem Zeitvertreib eine zusätzliche Dimension – eine magische Bedeutung?

Uraltes Instrument aus Mammutelfenbein

Exemplarisch möchte ich hier drei im archäologischen Befund erhaltene Blasinstrumente aus Knochen vorstellen. Zwei davon zählen zu den ältesten je gefundenen Musikinstrumenten der Menschheit überhaupt. Erstaunlich ist, dass gerade das älteste gefundene Exemplar hochkomplex und technologisch extrem aufwendig in der Herstellung ist. Es besteht aus Mammutelfenbein (Mammutstoßzahn) und wurde in der Höhle Geißenklösterle in der Schwäbischen Alb gefunden. Sein Alter: mindestens 40.000 Jahre.

Wissenschaftliche Versuche und Analysen ergeben folgende Arbeitsschritte: Ein Scheit, der zuvor aus dem Stoßzahn herausgespalten wurde, wird zu einem Rundstab geschliffen und sodann in zwei Hälften gespalten. Diese werden ausgeschabt, anschließend mit Birkenpech zu einem Rohr zusammengeklebt und mit Sehnen umwickelt. Zuletzt werden noch die Grifflöcher geschabt.

Mit Steinwerkzeugen funktioniert die Herstellung zwar gut, braucht aber sehr viel Zeit, Geduld und Intuition. Denn wie bei jedem gewachsenen Naturmaterial lässt sich das Ergebnis kaum berechnen. Wie das Mundstück beschaffen war, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Ein gerader Rohrabschluss mit angeschliffener Kante ist denkbar, das Instrument ließe sich dann als Flöte ähnlich einer arabischen Ney spielen. Doch war es wirklich eine Flöte? Disposition der Löcher, Innendurchmesser, klangliche Resultate sowie Vergleiche mit weltweit existierenden Flöteninstrumenten sprechen aus meiner Sicht eher dagegen. Beim Bauen des Elfenbeinrohres drängt sich ein Tonerzeugungsprinzip für das Mundstück geradezu auf: die sogenannten Gegenschlagzungen (Doppelrohrblätter). Das langwierige Schaben und Zusammenbinden von Rohrhälften kennen wir nämlich auch bei heutigen Doppelrohrblättern, wie ich sie z. B. für meine Dudelsäcke baue. Es liegt also nahe, das Mundstück nach dem gleichen Prinzip herzustellen. Bleibt die Frage nach dem Material. Ein direkt aus dem Mammutelfenbein gebautes Mundstück erwies sich als viel zu spröde. Die heute vorwiegend verwendete frostempfindliche Schilfart Arundo Donax wuchs nicht im eiszeitlichen Europa. Doch es gab andere geeignete Materialien. Wir kennen Doppelrohrblätter aus Holz von der Signaloboe Sk’A’Na der Haida aus Nordwestamerika, oder Birkenrindenoboen bei subpolaren Ethnien Eurasiens. Bei meinen Versuchen hat sich Birkenrinde als sehr brauchbar erwiesen. Der weiche und verblüffend volle Klang ähnelt dem eines armenischen Duduks.

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Ein Blasinstrument aus Geierknochen

Als zweites Exemplar möchte ich ein Blasinstrument aus Geierknochen vorstellen, das im benachbarten Hohle Fels in der Schwäbischen Alb gefunden wurde und nahezu vollständig mit fünf Grifflöchern erhalten ist. Sein Alter: 36.000–40.000 Jahre. Es weist beim Vergleich mit dem Exemplar aus Mammutelfenbein eine verblüffende Ähnlichkeit bei der Position und Größe der Grifflöcher im Verhältnis zur Rohrlänge und Rohrdurchmesser auf. Sie wurden bei beiden Instrumenten keineswegs zufällig gesetzt. Der ungleichmäßige Abstand und die unterschiedliche Größe der Löcher sprechen für exakt gestimmte Tonskalen. Das Instrument aus Geierknochen ist quasi die kleine Schwester des größeren aus Mammutelfenbein. Vermutlich wurde letzteres Material trotz seiner schweren Bearbeitbarkeit gewählt, da es für größere Exemplare keine geeigneten Röhrenknochen gibt. Entsprechend klingt meine Rekonstruktion des Geierknocheninstrumentes deutlich höher und dudelsackartig, mit einer Aufschlagzunge aus geschabtem Hirschgeweih (für das Klarinettenprinzip spricht hier das teilweise erhaltene Mundstück).

Meine Vermutung: Es gab ein fünflöchriges Blasinstrumentenmodell, dessen Korpus über Jahrtausende gleich gebaut wurde, kleinere Instrumente aus hohlen, möglichst zylindrischen Knochen, größere aus anderen Materialien wie zum Beispiel Mammutelfenbein. Als Tonerzeuger (Mundstück) dienten Gegen- oder Aufschlagzungen. Beide meiner Rekonstruktionen ergeben eine rein gestimmte durpentatonische Skala.

 Rentierknochen in Niederösterreich

Anders das dritte Instrument aus Rentierknochen, gefunden im Grubgraben (Niederösterreich). Es stammt aus einer jüngeren von Kargheit geprägten Übergangsperiode mit geringer menschlicher Besiedlung (Alter ca. 19.000 Jahre) und ist mit drei Löchern und einer Anblaskante etwas primitiver gebaut. Hier handelt es sich eindeutig um eine Flöte, die den natürlichen Wuchs bei wenig Bearbeitungsaufwand optimal ausnutzt und dennoch – wie meine Rekonstruktion zeigt – viele musikalische Möglichkeiten bietet. Eine geniale Schöpfung! Sie beweist, dass selbst unter widrigsten Bedingungen der Mensch künstlerischer Tätigkeit nachging. Denn Müßiggang – abschätzig oft als Faulheit bezeichnet – liegt in der Natur des Menschen und ist notwendig für Gesundheit und spielerisch-schöpferische Produktivität.

Dieser Gedanke beschäftigt denkende Menschen in Hochkulturen bereits seit mehreren Jahrtausenden, angesichts unserer heutigen auf Gewinnmaximierung ausgerichteten zerstörerischen Lebensweise ist er aktueller denn je. Gängige Begriffe wie Arbeit, Fleiß, Leistung, Selbstoptimierung, Fortschritt oder Konsum als Ausdruck einer unspielerischen Ellbogengesellschaft sind es wert, infrage gestellt zu werden. Wüssten die Erbauer der altsteinzeitlichen Knocheninstrumente von unserer heutigen Lebensweise, wäre es für sie nicht verwunderlich, dass wir mitunter aus dem letzten Loch pfeifen! 

Albin-Paulus

Foto: Stefanie Paulus

Zum Autor

Albin Paulus, geboren in Deutschland mit österreichischen Wurzeln, beschäftigt sich seit früher Kindheit mit Maultrommel und Jodeln. Nach einer klassischen Klarinettenausbildung in Braunschweig und einem Musikwissenschaftsstudium in Wien und Cremona machte er sich einen Namen als international prämierter Dudelsackspieler, Maultrommel-Weltvirtuose, Experimental-Jodler, Stimmakrobat, Komponist und Wortspieldichter. Seine rege Konzert- und Lehrtätigkeit führte ihn durch ganz Europa sowie nach Asien, Nordafrika und Übersee. Er gründete Projekte für frühe Musik, Musikarchäologie und Instrumentenrekonstruktion wie Cantlon, erfindet neue Musikinstrumente und Klänge mit Biowobble und spielt in zahlreichen Ensembles wie z. B. Hotel Palindrone.

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